Die Präsidentin des Antikriegshauses sprach am 6. Juni 2012 zur Verlegung der ersten Stolpersteine

 

Nun sind wir in Lehrte so weit: wir können die ersten 21 Stolpersteine verlegen.

Stolpersteine – da stolpert man doch gar nicht drüber, sagt jemand. Ein kurzes Nachdenken, dann antwortet ein Jugendlicher: „Nein, nein, man stolpert nicht und fällt nicht hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“

Die Stolpersteine sollen an das Schicksal der Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden, jüdische Mitbürger/innen, Sinti und Roma, politisch und religiös Verfolgte, Zeugen Jehovas, wenn sie den Kriegsdienst verweigerten – was das Normale war, Homosexuelle , Euthanasieopfer, oder Deserteure, letztlich also Menschen, die in ganz besonderer Weise unter dem nationalsozialistischen Terrorsystem leiden mussten, Menschen, denen Menschenwürde und Menschenrechte genommen wurden.

Jedes Opfer erhält einen eigenen Stein, denn jeder Mensch ist ja eigene eigene, eigenständige Persönlichkeit. Den Opfern des Naziregimes, die im Konzentrationslager zu Nummern degradiert wurden, wird ihr Name zurückgegeben.

Wenn wir uns über den 10x10x10 cm großen mit Messingplatte überzogenen Stein beugen, um Namen und Daten auf den Stolpersteinen zu lesen, dann kann das auch wie eine symbolische Verbeugung vor den Opfern sein. Und auf noch eines können uns die Stolpersteine hinweisen: Sie werden dort verlegt, wo die verfolgten Menschen ihre letzte frei gewählte Wohnung hatten. Häufig ist das mitten in dicht besiedelten Gebieten. Kann es dann sein, was so viele als Schutzbehauptung vorbringen: „wir haben davon nichts gewusst, von den Deportationen und so!“ Kann das wirklich sein? „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ sagt Gunter Demnig, der die Idee zu diesen Stolpersteinen hatte und mit dieser Idee viele Menschen gewonnen hat, sich mit der Geschichte ihres Wohnortes im Nationalsozialismus auseinander zu setzen, sich dieser Geschichte zu stellen. Die Menschen, denen ihr Menschsein abgesprochen und gestohlen wurde, wieder zu unseren Mitbürgern und Mitbürgerinnen werden zu lassen, zu Menschen, die zu uns gehören. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. Auf den Steinen steht geschrieben: HIER WOHNTE … Ein Stein, ein Name, ein Mensch. Die Erinnerung an die Verjagten, Deportierten wird also dorthin zurückgeholt, wo sie einst ihren Platz hatten, wo sie Nachbarn waren. Denn das waren sie doch: Nachbarn, jede/r Deportierte wohnte bei irgendjemanden nebenan, ging zum selben Bäcker, machte Pause auf denselben Parkbänken, hatte sein Konto bei derselben Bank, trank sein Feierabendbier in derselben Kneipe, war Mitglied im Sportverein, bei den Schützen, in der freiwilligen Feuerwehr, ihre Kinder waren Mitschüler und Mitschülerinnen, spielten mit den anderen Kindern – so lange sie durften. Denn für jüdische Kinder nahm diese Freiheit z.T.schon früh im Nationalsozialismus ein Ende. Heute verlegen wir in Lehrte die ersten 21 Stolpersteine, zwei  für aus politischen Gründen Verfolgte, Menschen also, die den Mut hatten, sich gegen das Naziregime zu äußern, erkennen zu lassen, dass sie die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus nicht bereit waren zu akzeptieren und zu übernehmen. Freie Meinungsäußerung würden wir das heute nennen. Damals war es lebensgefährlich und in den Akten werden solche Politischen als BV geführt, was die Abkürzung für Berufsverbrecher ist. Also: freie Meinungsäußerung, das Eintreten für Recht und Gerechtigkeit - ein todbringendes Verbrechen. Beide haben ihren Mut mit ihrem Leben bezahlt, August Bödecker und Robert Lohmeier.

19 Stolpersteine verlegen wir für jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen. Mitmenschen, die mittendrin gelebt haben, Nachbarn waren, ihrem Tagewerk nachgingen wie alle anderen auch in Lehrte. Ihre Kinder gingen mit den anderen zur Schule. Eugen Breuer, wohl Jahrgang 1919, ein ehemaliger Schüler des Reformrealgymnasiums Lehrte schreibt in einem Nachkriegsbericht, den er aus sehr persönlicher Sicht verfasst hat unter dem Titel „Soldat unterm Hagenkreuz“ zu den Mitschülern Folgendes: „An unserer Schule hatten wir fünf jüdische Mitschüler: die Brumsack-Geschwister,die Simon-Brüder und Alfred Katz. Letzterer war so alt wie ich und ging in die Parallelklasse. Die Brumsack-Geschwister waren jünger als ich,der eine Simon älter, der andere jünger als ich.Ich weiß nicht mehr, wann wir  unsere jüdischen Mitschüler aus den Augen verloren haben. Wahrscheinlich haben sie die Schule noch während der Schulzeit meines Jahrganges, also vor 1938, verlassen müssen.“

So weit Eugen Breuer.

Alles geschah mittendrin. Kinder mussten die Schule verlassen, Mitmenschen mussten fliehen wie die Simon-Söhne und ihr Vater oder Kurt Weiler. Nachbarn wurden aus den Wohnungen herausgetrieben, abtransportiert in Konzentrationslager. Jeder, jede konnte es sehen, hat es miterlebt. „Davon haben wir nicht gewusst!“ – das ging gar nicht in einer Stadt wie Lehrte. Vielleicht war das eben so wie ein alter Mann in einem Gespräch beim Zug der Erinnerungen gesagt hat: „Wir haben gelernt nicht zu sehen, was wir nicht sehen sollten, nicht zu hören, was wir nicht hören sollten,und nicht zu sagen, was wir nicht sagen sollten.“ Heute holen wir diese Menschen symbolisch zurück in unsere Mitte. Sie erhalten ihre Namen zurück, und ihre Namen werden da unübersehbar sein, wo diese Menschen gelebt haben, wo heute ihr Kinder und Kindeskinder als unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, Mitschüler und Mitschülerinnen leben könnten, wenn die Ideologie des Nationalsozialismus sie nicht zu Nicht-Menschen degradiert hätte und die Mehrheit der Mitmenschen das mitgemacht haben. Richard von Weizäcker, damals Bundespräsident, hat in seiner Rede zum 8. Mai 1985 uns das ins Stammbuch geschrieben:

„Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich andern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Menschenrechte und Menschenwürde – beide sind für uns ein Geschenk, aber auch ein Auftrag. Wenn wir diesen Auftrag, niemanden jemals seine Würde und seine Rechte als Mensch abzuerkennen oder vorzuenthalten, spüren und in unser Leben miteinander und füreinander hineinnehmen, dann könnten wir immun gegen neue     Ansteckungsgefahren sein, die oft die alten sind. Dass uns das gelingen möge, auch dafür legen wir heute Stolperst eine in Lehrte, über die man mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpert.

Vielen Dank.

 

 


 

 

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